"Eine Leiche für Perrot" von C'rysta Winter

Die Idee und ihre Geschichte

Was passieren kann, wenn eine späte Liebe plötzlich zum Leben erwacht und man mittendrin sitzt in einem idealen Krimi Ambiente - 

Seit dreißig Jahren lebe ich in einem Mühlendorf im nordwestlichen Teil Niedersachsens. Idyllisch, aber fernab. Seit zwölf Jahren bin ich Mitglied bei den Mörderischen Schwestern. Seit zehn Jahren schreibe ich schwarzromantische und kriminelle Kurzgeschichten. Und seit zehn Jahren bin ich dem Charme, der Intelligenz, dem Spürsinn und natürlich den grünen Augen des Hercule Poirot erlegen. Ich kann nicht anders. Es hat mich halt erwischt. Nun ist all das für sich genommen und einzeln betrachtet nicht wirklich spektakulär. Und bis jetzt hat es mir weder den Schlaf geraubt, noch mich in sonst einer Weise umgetrieben. Es gehört zu mir wie der Name, den ich trage. Aber dann passierte etwas, das all diese Dinge gründlich miteinander vermischte. Und plötzlich ergab sich eine hochexplosive Mixtur und ich saß drauf, auf meinem eigenen Pulverfass.

Der Moment, in dem es beginnt, ist sonnenlichtdurchflutet. Ich sitze im Gartencafé des Weidenhofes, keine zwanzig Kilometer von meinem Wohnort entfernt, mittendrin in der nicht enden wollenden Idylle eines Samstagnachmittags. Direkt vor mir, auf einer blauweiß karierten Tischdecke, steht ein Apfelkuchen aus der hofeigenen Tortenmanufaktur. In Blickrichtung flanieren Hochzeitsgäste den mit Blumenkübeln gesäumten Weg entlang. Allesamt sind es Menschen in freudiger Erwartung des Brautpaares und der Festlichkeiten. Luftballons schweben von dünnen Bändern gehalten über den Köpfen. Ein Kind auf einem Fahrrad strampelt den Weg zum Spielplatz entlang. Eine Fotografin fängt Schnappschüsse vor dem Kaninchengehege ein. Sie verpasst den Aufbruch zur Trauungszeremonie am See. Mit wehendem Haar hastet sie der Festgesellschaft hinterher.

Unvermittelt ist der Platz vor der Hochzeitsscheune menschenleer. Ruhe ist eingekehrt. In diese Stille hinein höre ich das Knirschen von Schritten. Ich kenne den Mann, der dort um die hintere Ecke der Scheune biegen will, gut genug, um neugierig zu werden. Aber nicht gut genug, um wie ein Marktweib hinter ihm her zu schreien. Und natürlich reagiert er auf mein Gebrüll auch nicht. Ich ducke mich innerlich unter mir weg. Da höre ich mich zum zweiten Male nach ihm rufen.
Der Mann ist kurz davor, die Scheunenecke zu umrunden. Aber ich kann ihn nicht entwischen lassen, es ist, als tippe mir jemand auf die Schulter ... dort geht deine Chance, verpass sie nicht. Ich bin eben im Begriff, mich zu erheben, da stoppt er plötzlich auf seinem Weg. Er kommt an meinen Tisch. Ich halte die Luft an, während er auf mich zukommt. Das allein hätte mir schon zu denken geben sollen. Aber noch bin ich ahnungslos.
Der Mann lächelt mich an. Fast wirkt es ein wenig zerknirscht. „Tut mir wirklich leid“, sagt er, „dass ich nicht gleich reagiert habe. Aber ich war grad im Tunnel. Morgen nämlich“, er deutet zum See hinunter, „morgen heirate auch ich hier. Nach zehn Jahren noch einmal. Und noch einmal dieselbe Frau.
Mein Gehirn wird schlagartig mit einem mörderischen Cocktail aus Botenstoffen geflutet. Es fühlt sich an wie eine Explosion. Und im Zentrum dieser Explosion entsteht ein Vulkan, der in atemberaubender Geschwindigkeit eine Idee in den Himmel schleudert und alles um mich herum mit sich reißt. Das parkähnliche Anwesen. Die Hochzeitsscheune. Den kleinen See. Das Kaffeehaus und das Gartencafé. Selbst vor dem Kaninchengehege macht er nicht halt.

Und plötzlich weiß ich, dass ich gewartet habe. Auf eine Gelegenheit wie diese, um einem Herrn mit grünen Augen, untersetzt und makellos nostalgisch gekleidet eine Bühne zu bereiten. Eine angemessene Bühne, die seinem Können und dem Flair, das ihn umgibt, Rechnung trägt. Denn ich kenne ihn bis in den letzten Winkel seiner Seele, diesen Herrn. Ich habe bereits schlaflose Nächte mit ihm verbracht. Habe mich an seine Fersen geheftet und auf der Suche nach dem Mörder einen Cassis mit ihm geschlürft.

Aber sie ist mit einem Bann belegt, diese literarische Liebe meines Lebens. Einem Kopierschutz sozusagen. Doch in diesem sonnenlichtdurchfluteten Moment, und obwohl ich noch immer ein wenig benommen bin von dem mörderischen, hochprozentigen Cocktail, habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass ich einen Weg finden werde. Eine Umgehungsstraße gewissermaßen, die mich sicher zu meinem Ziel führen wird: eine Liebeserklärung an Monsieur Hercule Poirot in einen Kriminalroman zu verpacken.

Ich habe kaum Zeit, meine Schokolade auszutrinken, denn meine Synapsen stöpseln bereits alle möglichen Handlungsstränge und Verwicklungen. Aber zuerst muss die illustre Hochzeitsgesellschaft gebildet werden. Und schon formiert sich eine feine, ausgesprochen noble Gesellschaft unter dem Torbogen des Hofeingangs. Viele Gäste sind aus England angereist. Der Bürgermeister zieht zum wiederholten Male sein Redemanuskript aus der Jackentasche.

An meinem Nebentisch lasse ich eine Gruppe älterer Damen Platz nehmen. Probehalber steuert der bereits erwähnte Herr mit den grünen Augen auf einen der freien Tische unter einem Sonnenschirm zu. Galant lüftet er seinen Matlot. Er lächelt mich an. „Nes pa, Madame? Diese spätsommerliche Hitze ist in der Tat mörderisch.“

Ich nicke und lächle zurück. Aber Zeit, etwas zu erwidern, habe ich gerade nicht. Ich muss nämlich erst einmal hinübergehen zum großen Tor der Scheune. Zu meinen Protagonisten mit ihren festlichen Roben. Mit ihren verschwiegenen Blicken. Ihren Gesprächen, von denen jetzt bereits Wortfetzen zu mir herüberklingen.

Ich erhebe mich. All diese Menschen da drüben am Tor der Hochzeitsscheune, sie brauchen mich jetzt.

Auf halbem Wege drehe ich mich noch einmal um. Monsieur Hercule Poirot dort unter dem Sonnenschirm, er hat sich ein wenig verändert. Er scheint mir schlanker und ein wenig größer geworden. Seine Füße stecken in zwar edlem, aber bequemem Schuhwerk. Und es ist nicht das Grün des Buchenlaubs, es ist das Graublau des Himmels, das die Farbe seiner Augen widerspiegelt. Blitzartig wird mir bewusst, wer dort im Begriff ist, sich zu erheben und sich an meine Fersen zu heften.

Sein Name ist Achille Perrot. Und er ist Enkel und einziger Nachkomme des großartigen Hercule Poirot.

Denn, Mesdames et Messieurs, dieser außergewöhnliche Geist muss seine bereits sprichwörtlichen grauen Zellen an eine Nachkommenschaft weiterreichen.

Ihre Crysta Winter  

Reminiszenz

Am 6. August 1975 gab die New York Times auf ihrer Titelseite den Tod eines berühmten Detektivs  bekannt. Den des belgischen Ermittlers Hercule Poirot.  
Es war das erste und bisher einzige Mal, dass eine solche Todesanzeige für eine fiktive Persönlichkeit geschaltet wurde.